Unsere Eltern haben den Fernseher geschätzt, denn er sorgte dafür, dass wir Kinder ihnen für eine gewisse Zeitspanne nicht auf die Nerven gingen und Fernsehen war, neben
Eishockey spielen und Drachen steigen lassen, eines meiner liebsten Hobbys. Das tschechische Kinderprogramm der 70er und 80er Jahre war ja auch wirklich gut: Arabella, Pan Tau, Rumcajs, Der Maulwurf, Majka, oder Saxana. Wenn es da nur diese polnische Serie “Vier Panzersoldaten und ein Hund” nicht gegeben hätte, in der vier Kinder und ein Hund einen Panzer kapern und verschiedene Abenteuer im Zweiten Weltkrieg erleben. Als ich nach einigen Folgen meine Eltern fragte: “Warum haben wir denn keinen Krieg? Das wäre doch ganz viel Spaß!”, wurde der Fernsehspaß von unseren schockierten Eltern auf ein Minimum beschränkt und sie kümmerten sich lieber darum, dass meine Schwester und ich den ganzen Tag unbeaufsichtigt draußen in der Natur spielten.
Dann fing für mich das Kapitel Westdeutschland an. Ein neues Leben, ein anderes Fernsehprogramm. Hier gab’s Colt Seavers, Mr. Spock oder Dick und Doof. Im Hof unseres Asylantenheimes PENSION ZUM SEE befand sich ein Lagerschuppen, in dem Sperrmüll lagerte. Wie oft ich mich darin in den leeren Kühlschrank gesetzt und mir vorgestellt hatte, das wäre die Raumfähre Galileo, mit der ich gerade auf einen bis dato unentdeckten Planeten schwebte…
Dadurch, dass mir Ronny, unser afrikanischer Koch, viele Comichefte geschenkt hatte, wurde ich schon sehr früh ein Comicliebhaber. Ja, Comics lesen, das war mein erstes westliches Hobby. Doch fand ich, dass manche Charaktere eine Typenveränderung brauchten. So malte ich Dr. McCoy in der Erstausgabe von Star Trek von 1973 einen Kugelschreiber-Vollbart und Spiderman hangelte sich in einer Sonderedition von 1981 mit Edding-Pupillen durch die Großstadtschluchten.
Im September 1982 mussten wir, die Kinder aus dem Asylantenheim, in die Schule. Hatte ich eine Angst! Ich kannte weder die Sprache, noch das westdeutsche Schulsystem. In Prag
hasste ich die Schule. Da hat mir einer der Söhne einer Funktionärsfamilie immer und immer wieder furchtbare Streiche gespielt. So kackte er mir während einer Klassenfahrt ins Bett, mitten in der Nacht, während ich fest schlief. Dann petzte er beim Aufsichtspersonal, dass es bei mir im Bett stinken würde. Der Aufseher weckte mich unter lautem Gelächter all der anderen Jungen und ermahnte mich streng, die Scheiße wegzuräumen und das Bett zu putzen. Ich wusste sofort, welches Arschlochkind das gemacht hatte aber gegen die kommunistischen Kinder und Aufseher hatte ich keine Chance. Ich kam schließlich aus einer nicht besonders systemtreuen Familie.
Ich konnte kaum ein Wort Deutsch und musste deswegen das zweite Schuljahr wiederholen. Ich schämte mich dafür, doch die Schule war hier anders. Meine Klassenlehrerin war nett,
meine Mitschülerinnen und Mitschüler hilfsbereit und weit und breit gab es kein Kind, das bereit gewesen wäre, in mein Bett zu kacken.
“Schreibst du in mein Poesiealbum?”, fragte mich eine der Mitschülerinnen. Ich wusste nicht, was ein Poesiealbum war, so etwas kannte ich aus der ČSSR nicht. Wir hatten dort nur ein Klassenbuch, in dem von unserer Klassenlehrerin alles notiert wurde, was die Schülerinnen und Schüler so angestellt haben. Meistens mit der Bitte an die Eltern, das Kind angemessen zu bestrafen. Also z.B. mit einer harmlosen Ohrfeige, einem kräftigen Klaps auf den Hinterkopf oder – dem altböhmischen Klassiker – einer Tracht Prügel mit einem Kochlöffel auf den blanken Hintern.
Im Asylantenheim blätterte ich interessiert dieses Poesiealbum durch. Ich brauchte Inspiration. Was haben die anderen so reingeschrieben? Alle aus der Klasse haben sich dort verewigt, mit Gedichten wie: “Mein Gedicht ist klein, ich bin froh
deine Freundin zu sein”. Lieblingsfarbe, Lieblingsbuch, Lieblingsessen, Lieblingsfußballer, Lieblings-Hobby und so weiter.
Bei Lieblingsfußballer stand bei allen, egal ob Mädchen oder Junge, Karl-Heinz Rummenigge.
Das Lieblingsessen war meistens Spaghetti-Eis oder Nudeln mit
Tomatensoße. Die Lieblingsfarben variierten je nach Geschlecht zwischen Blau, Grün, Rosa und Rot und bei Hobbys haben alle, wirklich alle, “Mahlen” angegeben.
Ich kannte das Wort nicht und holte mein billiges Deutsch-Tschechisches Kinder-Wörterbuch zu Hilfe.
A,b,c,d,e,f,g,h,i,j,k,l, m… m,a… da war’s: M – A – H – L – E – N. Auf Tschechisch: “Mlít”. Mahlen? Was haben die Deutschen denn bloß für komische Hobbys?
Ich fragte mich: “Muss ich mir jetzt eine Kaffeemühle zu Weihnachten wünschen, um dazuzugehören? Und wie mahlt man eigentlich? Und was mahlen deutsche Kinder überhaupt?
Mahlen die Kaffee und dürfen die den überhaupt schon trinken? Oder mahlen sie sogar Getreide, um ihr eigenes Brot zu backen?“
Ich habe Angst bekommen, dass ich zu Mahl-Parties eingeladen werde und mit den anderen Kindern zusammen etwas mahlen muss. Oder schlimmer noch: Zu Mahlwettbewerben! Wie sollte ich denn so schnell Mahlen lernen?
Ich musste mir bei den Hobbys etwas überlegen, was weit vom Mahlen entfernt war, doch bevor mir etwas einfallen sollte, kümmerte ich mich lieber erst einmal um die anderen Hobbys.
Mein Lieblingsmusiker? Das war natürlich Ivan Mládek mit seiner Banjo-Band. Der hat sogar mal ein Lied geschrieben, in dem ich vorkomme. Das hatte er mir persönlich versprochen, als er meine Mutter und mich nach einer Autopanne in die Stadt mitgenommen hatte und mich fragte, wie ich denn hieße. Ich sagte: “Richard Bláha”. “Du wirst in meinem nächsten Lied vorkommen, Richard Bláha, das verspreche ich dir.”
Seitdem ist mein Name in dem Lied “Dívka s modrou matrací” verewigt.
Es handelt von einem Spanner, der aus einem Gebüsch heraus ein schönes Mädchen beim Sonnen auf ihrer blauen Matratze am See beobachtet. Doch eines Tages kommt Richard Bláha mit einem Ruderboot und das Mädchen auf der blauen Matratze verliebt sich in ihn. Das Mädchen und Richard rudern dann verliebt mit seinem Boot in die Ferne und der Spanner, aus dessen Perspektive der Liedtext gesungen wird, bleibt einsam im Gebüsch zurück und schreibt beleidigt: “Wenn du dumm bist, schönes Mädchen, dann nimm doch den Richard!” in den Sand.
Da ich mich schon damals mit Fußball nicht besonders gut auskannte, schrieb ich bei Lieblingsfußballer, so wie alle anderen auch, Karl-Heinz Rummenigge ins Poesiealbum. Ich kannte den zwar nicht, aber ich wusste, dass es zu keinen so drastischen Problemen kommen würde, wenn das rauskommt, wie wenn ich nicht mahlen könnte. Lieblingsfarbe Blau und Lieblingsessen Schnitzel oder Obstknödel. Dann ein Gedicht, hmm… Ich konnte ja kaum Deutsch. Ich habe es ausgelassen.
Und bei Hobbys? Da war mir klar, dass das so ziemlich das Wichtigste ist. Sollte ich Fernsehen schreiben? Oder Comics lesen und dabei Äpfel essen? Aber dann würden die anderen ja denken, dass ich sehr faul bin und würde ich „Mahlen“ schreiben, dann wäre mir eine Einladung zu einer dieser Mahlparties sicher. Ich schlug in meinem billigen Wörterbuch Malovat nach, was
Malen heißt – ohne h.
Da das Wörterbuch offensichtlich nicht von Profis geschrieben wurde, war ich der einzige Zweitklässler, der als Hobby „Pinseln“ angegeben hatte. Jetzt sollten die deutschen Kinder erfahren, dass wir kleine Tschechen schönere Hobbys hatten, als mit Mühlen zu mahlen.