Manche in meinem Umfeld scheinen zu glauben, Molière sei in die Zukunft gereist und habe mich als Vorbild für sein letztes Werk genommen. Ich gebe zu, ich bin ab und zu ein bisschen wehleidig. Immerhin weiß ich, dass ich meinen Körper intensiv spüre, was bei den eingebildeten Gesunden nicht der Fall zu sein scheint. Warum nennen sie mich überhaupt Hypochonder? Wenn ich zum Beispiel einen Grippevirus habe, lege ich mich nur ins Bett und schlafe drei Tage durch. Meine Medizin besteht dann aus Suppen,Tees, Ingwer und Salbei. Nach drei Tagen bin ich wieder fit. Ich finde es normal, so etwas zu tun, wenn sich der Körper mit den ersten Symptomen meldet. Aber meine Freunde oder sicher auch Anthroposophen (die nicht zu meinen Freunden gehören) würden mir vielleicht vorwerfen, dass ich in diesen drei Tagen etwas hätte tun können, anstatt faul im Bett zu liegen. Bin ich wirklich ein Hypochonder, weil ich mich während einer Krankheit schone?
Im Jahr 2017 hustete ich einen dunkelbraunen Schleim mit grünlichem Schimmer. Auf der glänzend weißen Emailleoberfläche des Waschbeckens im Badezimmer sah er besonders eklig aus. Ich vermutete, dass diese Atemwegserkrankung vom Rauchen kam, aber anstatt damit aufzuhören, putzte ich das Waschbecken einfach nicht mehr. So verhinderte ich, dass die unappetitlichen Absonderungen durch den restlichen Schmutz im Waschbecken nicht mehr so stark auffielen. Aber weder der Husten noch der Auswurf wurden dadurch beseitigt. Also habe ich mit dem Rauchen aufgehört. Ich ließ mich ärztlich untersuchen, und zu meiner Erleichterung war es nicht das Schlimmste, was ich absonderte, sondern nur Teer.
Ich erzählte meinen Freunden davon, und allein das bewies, dass ich ein Hypochonder war. „Nimm dir ein Beispiel an Martin Wuttke! Der raucht mit 56 auf der Bühne eine nach der anderen und macht vor und nach jeder Zigarette 100 Liegestütze! Oder den Profi unter den Rauchern: Helmut Schmidt ist gestorben, nachdem er aufgehört hat zu rauchen. Also sei nicht so ein Weichei und rauche weiter. Rock n Roll“, sagte ein Bekannter zu mir.
Damals wurde darüber spekuliert, ob Helmut Schmidt das Rauchen aufgegeben hat, weil er ahnte, dass er bald sterben würde, oder ob er gestorben ist, weil er das Rauchen aufgegeben hat. Ich tendiere immer noch zu ersterem – typisch Hypochonder eben.
Im Sommer 2011 begann mein Körper mit mir über allergische Reaktionen zu kommunizieren. Ganz plötzlich. Von einem Moment auf den anderen. Ich war auf einem Junggesellenabschied in Düsseldorf und da gab es erst Schweinebraten mit Maggi-Fix-Soße. Später auf der Ausgehmeile – Ratinger Straße – Burger, Döner und Mini-Schokoküsse von Aldi. Dazu trank ich viel Bier, viel Wein, einige Longdrinks, rauchte wie ein Schlot und bekam dann einen angeblich legendären Schnaps mit 98 verschiedenen Kräutern, Beeren und Früchten aus aller Welt serviert. Nach diesem Shot bekam ich meinen ersten Nesselausschlag am ganzen Körper, gefolgt von meiner ebenfalls ersten anaphylaktischen Reaktion. Und ratet mal, wie man mich nennt, wenn ich seither ein Glas Rotwein wegen zu hohem Histamingehalt ablehne? Warum habe ich eigentlich seit Sommer 2011 regelmäßig Allergien? Bis dahin war ich doch mein Leben lang davon verschont geblieben. Ich habe zwei Theorien:
Erstens gentechnisch veränderte Futtermittel – meist Soja -, die auf gerodeten Regenwaldflächen angebaut und an Tiere in der Massentierhaltung verfüttert werden. Das Fleisch bzw. die tierischen Produkte sind vermutlich seit 2011 auch auf dem deutschen Markt erhältlich. Dann der Supergau in Fukushima, der erst die Weltmeere und dann die ganze Welt verstrahlte. Vielleicht war es auch eine Kombination aus beiden Katastrophen, die zu der Allergie führte. Vielleicht bin ich 2011 aber auch nur auf die Gesellschaft allergisch geworden.
2020 kommt Corona. Ein Jackpot für Hypochonder. Aber DAS Paradies für eingebildete Gesunde. Endlich konnte man mir beweisen, wie gut das menschliche Immunsystem funktioniert. Ich trug in Innenräumen Mundschutz und hielt Abstand: „Du nimmst diese Panikmache wirklich ernst, du Hypochonder!“
Ich ließ mich impfen und boostern. „Bist du verrückt? Gegen eine Erkältung hilft nur Hühnersuppe.“
Solche Sprüche kennen wir alle. Bei mir rufen sie nur noch ein leises Gähnen hervor. Es gibt aber auch eingebildete Gesunde, die ihren Gesundheitszustand auf ein mir bisher unbekanntes Niveau heben. Das hat mir neulich ein 55-jähriger Freund in der Kneipe erzählt:
„Richard, du und deine Panik vor Corona. Schau, ich habe Diabetes. Am Tag nach der zweiten Impfung war ich erst im Berghain, habe MDMA genommen und dann nach einer durchzechten Nacht drei Tafeln „Milka zarte Botschaft – Du bist unschlagbar“ gegessen, bis der Blutzucker förmlich explodierte. Ich wartete mit dem Insulin, bis ich einen Joint zu Ende geraucht hatte, trank ein Glas Whiskey-Cola und schoss mir dann das Insulin rein. Und in diesem Zustand habe ich mir die Brust tätowieren lassen. Was für ein schönes Gefühl, seinen Körper zu spüren. Und du? Legst du dich ins Bett, wenn du einen grippalen Infekt hast? Haha!“
Da ich so ein Hypochonder bin, Asthma habe und wahrscheinlich alles Mögliche und weder MDMA noch Whiskey Cola oder eine Tätowiermaschine brauche, um mich gut zu fühlen, habe ich an einem Morgen im Sommer 2021 einen kompletten Gesundheitscheck machen lassen. Blutbild, Leber, Herz, Blutdruck, Nieren, Prostata, Lunge und so weiter. Bis auf das Asthma, das höchstwahrscheinlich der Auslöser für meine Allergie war, sah alles sehr gut aus. Es gibt wahrscheinlich keinen gesünderen Menschen auf der Welt als mich. Bin ich wirklich ein Hypochonder, weil ich mic selbst so einschätze?
Am Nachmittag desselben Tages rief mich meine Ärztin an.
„Herr Blaha, das Labor hat angerufen. Packen Sie Ihre Sachen für ein paar Tage, kommen Sie sofort hierher und holen Sie sich Ihre Überweisung für die Klinik ab. Und dann fahren wir mit Ihnen in die Charité. Sie haben wahrscheinlich eine Thrombozytopenie“.
Obwohl ich nicht wusste, was das ist, wurde mir bei diesem Wort ganz anders. Ich spürte, dass meine letzten Stunden vor mir lagen. Ich fragte mich, ob es sich überhaupt noch lohnt, den Rucksack zu packen. Schaffe ich es überhaupt noch die 500 Meter zur Arztpraxis? Also doch nicht der gesündeste Mensch der Welt. Das wäre doch zu schön gewesen! Ist das jetzt Hypochondrie, wenn ich in diesem Moment denke, dass ich mit 47 Jahren schon dem Tode geweiht bin?
„Herr Blaha? Sind Sie noch da?“
Oh, vor lauter Gedanken habe ich die Ärztin am Telefon vergessen.
„Ja, ich komme gleich zu ihnen.“
Dort angekommen sagte mir die Ärztin, dass ich fast keine Thrombozyten mehr im Blut hätte und sofort in die Hämatologie müsse. Ich frage sie, ob ich es bis dahin noch schaffe und sie beruhigt mich:
„Auf jeden Fall“.
In der Hämatologie angekommen, wurde mir zuerst Blut abgenommen. Dann musste ich ca. 2 Stunden auf der Liege in der Notaufnahme warten, bis das Laborergebnis da war. Zum Glück hatte ich meine voll aufgeladene Nintendo Switch dabei. Aber die Gespräche um mich herum waren interessanter als Super Mario.
Alle Liegen waren mit Vorhängen abgetrennt, so dass ich nicht sehen konnte, wer sich mit wem unterhielt. Es war wie ein Hörspiel. Direkt hinter dem Vorhang neben mir hörte ich eine Ärztin, die gerade eine Patientin untersuchte.
„Was haben wir denn hier?“
„Bauchschmerzen. Schlimme, schlimme Bauchschmerzen.“
„Sie haben Blut im Stuhl. Sehr viel sogar. Was haben sie zuletzt gegessen?“
„Zwiebeln.“
„Zwiebeln? Und was noch?“
„Nichts. Nur Zwiebeln. Seit Weihnachten esse ich nur noch Zwiebeln. Ich vertrage nichts anderes mehr.“
Hinter einem anderen Vorhang hörte ich einen ziemlich jungen und einen älteren Mann.
„Warum bist du hier, Brudi?“
„Alkoholvergiftung. Und du?“
„Normalerweise Heroin, aber heute ist es eine Überdosis Kokain.“
„Oh, das kenne ich, ich war auch mal jung.“
„Warst du auch im Knast, Brudi?“
„Ja, man. Ich bin erst letzte Woche rausgekommen.“
„Auch wegen Drogen, Brudi?“
„Nein. Körperverletzung mit Todesfolge. Ich war echt lange weg.“
„Krass, Brudi. Respekt, dass du jetzt draußen bist.“
„Ja. Ich habe eine Menge eingesehen. Aber mit dem Saufen kann ich nicht aufhören.“
Der junge Mann stand auf und bat hinter jedem Vorhang um eine Zigarette. Als er zu mir kam, um mich zu fragen, kam schon der Sicherheitsdienst des Krankenhauses und schleppte ihn zu seinem Bett zurück.
Dann kam die Ärztin mit dem Laborbefund und sagte:
„Wir müssen Ihnen noch einmal Blut abnehmen. Wir haben wirklich keine Thrombozyten in Ihrem Blut gefunden“.
Dann kam noch einmal der Pfleger und saugte mir Blut aus dem anderen Arm. Jetzt war ich wirklich etwas beunruhigt. Ich habe allen meinen Freunden und Verwandten geschrieben, dass ich im Krankenhaus bin und eine Story auf Instagram gepostet.
Eine Freundin meldete sich sofort per Direktnachricht und fragte, was los sei. Ich antwortete: „Zu wenig Blutplättchen im Blut“. Zwei Minuten später schrieb sie zurück:
„Oh, das habe ich gerade gegoogelt. Das kommt meistens bei HIV vor.“
Das beruhigte mich überhaupt nicht. In der Zwischenzeit kam ein Virologe zu mir, um sich zu vergewissern, wann genau ich meine zweite Impfung hatte und womit ich geimpft worden war. Denn Blutgerinnsel wären bei Astra-Zeneca vereinzelt aufgetreten, bei Biontech nicht. Ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen.
Um 3.55 Uhr kam eine Ärztin zu mir und überbrachte die gute Nachricht. „Sie haben genügend Blutplättchen im Blut. Sie hatten sich an den Seiten des Röhrchens abgesetzt und konnten nicht nachgewiesen werden. Das kommt manchmal vor. Wir haben alle möglichen Krankheiten abgeklärt und alles ist tipptopp. Sie sind wahrscheinlich der gesündeste 47-Jährige in der Stadt. Sie können jetzt nach Hause gehen.
Wie jeder Hypochonder war ich erleichtert, kein HIV zu haben, nahm meinen Rucksack und bestellte mir ein Freenow. Um halb fünf Uhr morgens kam ich zu Hause an. Dann habe ich allen geschrieben, dass es mir gut geht und ich das Krankenhaus verlassen kann.
Damit hatte ich allen endgültig bewiesen, dass ich der eingebildete Kranke war. Aber was soll’s? Wenigstens habe ich ein paar kleine Anekdoten mitgebracht.
In den Augen der eingebildeten Gesunden bleibe ich sowieso der Hypochonder. Und ich bin lieber eingebildet krank als wirklich krank, und es tut mir gut, von den Ärzten zu hören, wie gesund ich angeblich bin.
Was macht mich denn zum Hypochonder? Ich bin doch kerngesund, bis auf das Asthma, für das ich nichts kann und das meine Allergien verursacht. Woran liegt das?
Ich habe eine Nachbarin getroffen. Sie sagte mir, dass sich alle darüber amüsieren, was für ein Hypochonder ich sei. Ich habe sie nur gefragt:
„Was macht mich in deinen Augen zu einem Hypochonder?“
Und sie sagte: „Na ja, du hast immer irgendwas. Schmerzen im Knöchel, Asthma, Allergien, Kopfschmerzen, Grippe, Angst vor Corona, gebrochener Kiefer, CMD, Angst vor Zigarettenrauch … du hast uns doch alles erzählt.
Hypochonder zu sein bedeutet also nicht, krank zu sein oder sich einzubilden, krank zu sein. Hypochonder sein heißt, es zu erzählen, wenn man krank ist oder irgendwelche Symptome hat.
Man muss es wirklich für sich behalten. So einfach ist das. Oh nein, warum habe ich das überhaupt geschrieben? Jetzt wissen es alle.
(Text von 2021)