Gleitsicht

Ich stand mit meiner neuen Brille, die – obwohl Retro – recht modern ist (oder genau deswegen) vor dem Späti und trank ausnahmsweise mal ein alkoholfreies Bier. 

Die Reaktionen auf das alkoholfreie Bier waren, wie auch nicht anders zu erwarten,  durchwachsen aber die Reaktionen auf die neue, hippe Brille durchwegs positiv. Nur dass einige meinten, ich würde damit aussehen, wie ein Serienkiller aus dem Jahre 1977. Selbstverständlich sind Serienkiller Monster, sogar diejenigen, die in den seventies am Serienkillen waren. Doch viele von ihnen hatten immerhin Stil. Erinnern wir uns nur mal an den Bikini-Mörder. 

Sonst waren die Reaktionen auf die neue Brille unspektakulär und voller Stereotypen: 

„Siehst jetzt endlich klug aus“, „Hallo Herr Professor“ oder „Hey Richie, geile Brille! Yeah!“, „Tja das Alter, haha“ usw. 

Mein schon etwas älterer Nachbar spazierte vorbei, sah mich genauer an und fragte dann die wohl die unnötigste aller Fragen:  

„Hast du jetzt eine Brille?“ 

Ich sah mich um, um mich zu vergewissern, dass ich die Umgebung auch wirklich scharf sehe. Es hätte ja sein können, dass mein Nachbar mich in den letzten Tagen mit Brille gesehen hatte und ich sie vergessen habe anzuziehen. Dann würde seine Frage ja durchaus berechtigt sein. 

Mein Geradeaus-Blick war scharf.  Mit einer kleinen Handbewegung checkte ich, ob sich das Gestell noch auf der Nase befindet. Ich hatte die Brille eindeutig an.

Bevor ich eine adäquate Antwort parat hatte, fragte er schon interessiert weiter: 

„Weitsicht oder Nahsicht?“

Während sich die Welt in meiner Brille immer noch wegen des neuen Sichtfelds LSD-artig krümmte, sagte ich:

„Gleitsicht“ 

Seine Reaktion hat mich dann etwas überrascht, wenn nicht sogar schockiert.

„Na, du hast es ja schließlich auch! Man, man, man… ich wünschte, mir würde es auch so gut gehen. Aber ich freue mich für dich. Hab noch einen schönen Abend. Tschüss!“ 

Als er ging, stand ich nur noch wie gelähmt da und murmelte leise vor mich hin:

„Na ja, jetzt habe ich nichts mehr. Ausser der Brille…“

Es ist übrigens der Nachbar, der der Meinung ist, ich sei kapitalistisch und westlich sozialisiert worden und dass ich mir nur deswegen das Corona-Update mit dem „Quacksalber und Lügner“ Drosten anhöre und mir nicht die „wissenschaftlich korrekt dargestellte Wahrheit“ der „wirklich klugen Wissenschaftler in seinem Alter“ auf YouTube ansehe.

Dadurch, dass ich so „westlich“ sozialisiert wurde, merke ich ja schließlich nicht, dass der Prenzlauer Berg dem Untertang geweiht ist und dass Berlin seit 2015 voller – von Merkel importierten – Messermänner und voller kapitalistischer Immobilienhaie sei. 

Wobei ich ihm im letzten Punkt sogar zugestimmt hätte. Würde er mir nur auch mal zuhören. Warum höre ich Menschen, die anderer Meinung als ich sind, eigentlich immer zu und sie mir nicht? 

Andere Sozialisationen – andere Sitten? Mir bleibt so nichts anderes übrig als Texte zu schreiben und sie dann auf Lesebühnen vorzutragen. Tja, das habt ihr jetzt davon! 

Die kleine, sich selbst „konservativ“ bezeichnende Gruppe vor dem Späti bekam mit, wie ich murmelte, dass ich außer dieser Brille gar nichts mehr habe und einer davon machte einen Vorschlag, wie ich sehr einfach, sehr schnell und mit 100%er Sicherheit zu sehr viel Geld kommen kann. 

Ich müsste mich dafür nur bei Tipico anmelden. 

„Bei was?“

Dass ich nicht wusste, was das ist, stieß auf große Verwunderung. Einer von denen sagte, dass es sich schon alleine nur die Anmeldung lohnen würde, weil ich für diese einen 100€-Bonus geschenkt bekomme.

„Hört sich nach Abzocke an. Und was ist dieses Tipico denn jetzt überhaupt? 

Ein Schneeballsystem amerikanischer Ureinwohner?“

„Sportwetten. Staatlich kontrolliert und du kannst nur gewinnen. Probiere es aus. Ich lebe nur noch davon! Es ist steuerfrei und die Wahrscheinlichkeit, dass du gewinnst, ist wesentlich höher als bei Lotto oder bei Kryptowährungen“.

Ich wusste nicht, dass Kryptowährungen auch unter die Kategorie Glücksspiele fallen bei denen man gewinnen kann, aber irgendwie macht das sogar  Sinn. 

Das Stichwort „Steuerfrei“ triggerte mich. Ich ließ mich somit überreden, Tipico zumindest zu versuchen und es auf mein Smartphone zu installieren. Vielleicht könnte so wenigstens das Geld für die hippe Gleitsichtbrille zurück in die Kasse kommen.

Also habe ich 100€ eingezahlt und sofort den 100€ Bonus bekommen. Und dann habe ich erst mal gar nichts verstanden. So erinnerte mich Tipico schnell wieder daran, dass ich keine Ahnung von Sport habe .

„Ok, hier steht, dass gleich Bayern München gegen Eintracht Frankfurt spielt. Bei Bayern München steht eine 1,3 und bei Eintracht Frankfurt eine 10. Bayern München gewinnt doch immer, oder? Jedenfalls geht auch unter Nicht-Fußball-Fans dieses Gerücht rum. 

Na gut, ich kreuze die 10 an und spiele das für die 200€…“ Das müsste sicher sein. 

Dann habe ich gewartet, ein paar Biere getrunken, mit Nachbarn gequatscht und nach 90 Minuten das Ergebnis angesehen. 

Mist! Bayern München hat gegen Eintracht Frankfurt 1:2 verloren. Ich dachte, die gewinnen immer. Na ja, Pech gehabt. 

Ich sagte zu den Tipico-Radikalen, dass ich die App jetzt wieder lösche. 

„Komm ich erkläre es dir mal.“ 

sagte der Tipico-Radikale. 

„Mach mal die App an.“

Ich öffnete die App und mein Konto wies jetzt 1.100 Euro auf. 

Es stellte sich heraus, dass ich das mit den Quoten nicht verstanden habe: Nämlich, dass die Quote umso höher ist,  je unwahrscheinlicher der Sieg ist.

Ich wusste also gar nicht, dass ich auf die schwächere Mannschaft getippt hatte, die dann sogar gewonnen hat. Ok, in 90 Minuten 900 Euro verdient. 

Wenn ich jetzt 50 Spiele richtig tippe, kann ich mir vielleicht sogar ein E-Auto kaufen. Denn ich will ja die Emissionen wieder gut machen, die ich durch die vielen Klicks im Internet verursache. 

Ich googelte schon mal, was es so an E-Autos mit langer Reichweite gibt. Denn wenn schon ein E-Auto, dann will ich ja damit an die Ostsee oder nach Prag fahren. 

Der Mercedes EQS hat eine Reichweite von 770 Kilometern und kann in 15 Minuten 300 Kilometer nachladen. Dazu soll er ruhiger, gemütlicher und komfortabler als ein Tesla sein. Das wäre es doch! 

Ich füllte einen weiteren Tipico-Schein aus und wettete auf 50 Spiele mit denen ich insgesamt 100 Tausend Euro gewinnen sollte und ging auf die Mercedes-Website, um mir den zukünftigen EQS schon mal zu konfigurieren. 

Einparkhilfe, alle digitalen Assistenten, Sitzheizung, gute Reifen. 

Ok, done! Was wird denn der Spaß kosten? 

180 Tausend Euro? Spinnen die? Aber ich kriege immerhin eine Prämie vom Staat von 9.000 Euro, weil ich E-Mobilität unterstütze. 

Aber für restlichen 171 Tausend Euro kann ich doch ca. 23 Jahre lang zur Miete in einem Dachgeschoss in Mitte wohnen. Dafür kann ich 2.850 mal mit dem Zug nach Prag fahren oder 14.250 mal ins Bodemuseum gehen. In 23 Jahren ist dann meine Midlifecrisis eh schon 23 Jahre lang vorbei, ich bin dann über 70 und kann meine Rente antreten. Hm, aber kriege ich überhaupt 171 Tausend Euro mit den Wetten zusammen? Ich glaube ich muss noch mehr wetten abschließen. Und wird überhaupt der Bonus mit ausgezahlt? Nein, man kann damit wetten aber alles was mit den 100€ eingesteht wurde und gewinnt, kann nicht ausgezahlt werden. Die wollen einen doch nur süchtig machen! 

Tja, und jetzt kam das eigentliche Problem. Ich habe mich nicht mehr getraut, bei Tipico nachzusehen. Ich hatte Angst davor, dass ich die 100 Tausend Euro gewonnen haben könnte. Was sollte ich denn mit so viel Geld in der Realität anfangen? Also die Träumerei ist ja schön. Aber ich würde bestimmt nicht 14.250 mal den Eintritt ins Bodemuseum  zahlen. Die würden mich dort doch schon nach dem 100sten Besuch als Stammgast ansehen und mir eine Dauerkarte schenken.  

Bei Tipico nachgesehen und das erste der 50 Spiele, auf die ich getippt hatte war verloren.  

„Danke AS Monaco! Ich hatte auf dich gewettet, du verlorst und hast mich damit erlöst!“ 

Die Spielsucht kriegt mich nicht. Dann spiele ich lieber weiter die Schönen Zelda-Spiele auf meinem Nintendo. 

Ich erwachte jetzt aus dem Märchenreich, schloss die Mercedes-Homepage und löschte die Tipico-App. 

Dann guckte ich durch meine neue Brille und genoss die scharfe Realität.

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