Sport war früher nicht so mein Ding.
Als ich in Hessen zur Schule ging, gab es jedes Jahr diese unsäglichen sogenannten Bundesjugendspiele, bei denen wir Metallkugeln so weit wie möglich werfen und in einen Sandkasten springen mussten.
Was sollte ich mit solchen Fähigkeiten im Leben anfangen? Ich wollte doch Komponist werden.
Und das klappte dann auch. Seit fast zwanzig Jahren arbeite ich in dem Beruf, und nach stundenlangem Sitzen im Tonstudio hatte ich irgendwann das Bedürfnis, mich sportlich zu betätigen. Abgesehen von den sommerlichen Aktivitäten “Fahrrad fahren” und “im Liepnitzsee planschen” habe ich mich ja kaum bewegt und wusste, dass ich das so schnell wie möglich ändern musste. Also machte ich mich auf die Suche nach einer geeigneten Sportart.
Ein Fitnessstudio?
War damals noch nicht mein Ding.
Joggen?
Nee. Seit in Berlin unzählige Running-App-Jogger-Pärchen in ihren teuren Paar-Jogginganzügen auftauchen, sich gegenseitig motivieren, indem sie an Ampeln hüpfen, sich auf den Hintern klatschen und ihre Laufstrecke auf Facebook posten, Instagram nur noch aus sexy Yoga-Selfies mit dem Hashtag #picoftheday besteht und Fitnessstudio-Fanatiker und -Fanatikerinnen sich mit dem Hashtag #keineausreden ausreden, ist mir die Lust auf diese Bewegung vergangen.
Bis ich die Schwimmhalle im Ernst-Thälmann-Park entdeckte.
Sie sieht innen aus wie aus Lego zusammengebaut, hat – außer dem souverän lächelnden Pool-Lift für Behinderte – keine besonderen Attraktionen zu bieten und ist voller Ostberliner Omis, deren Gespräche sich hauptsächlich um deftige Küche drehen. Ich fühlte mich hier also sofort wohl. An diesem Ort konnte ich schon so einige gute Gugelhupf-Rezepte erlauschen.
Als ich das erste mal in dieser Schwimmhalle war, waren gerade mal fünf Menschen dort und ich konnte zwei Stunden lang – ganz entspannt – meine Mischung aus Frosch- und Rückenschwimmen genießen. Mein Mittwoch Nachmittag war ab dem Zeitpunkt für die Schwimmhalle reserviert.
Doch eines Mittwochs arbeitete ich an der Musik für einen Werbespot. Das ist mehr Arbeit als viele denken. Mein freier Mittwoch-Nachmittag war also gelaufen. Es braucht hauptsächlich viel Zeit, um über den Sinn des Briefings nachzudenken. Also entschloss ich mich fürs Schwimmen am nächsten Morgen.
An dem Donnerstag an der Schwimmhalle angekommen, sah ich erst den überfüllten Fahrradständer. Ich dachte mir nichts dabei und schloss mein Fahrrad an der Treppe an. Ich zahlte wie gewohnt den Eintritt bei der Kassiererin, die nie lachte.
„Kurz oder lang?“
grummelte sie auf die gute, alte Berliner Art.
„Was?“
„Kurz oder lang?“
„Was meinen sie denn, das haben sie mich bisher noch nie gefragt.“
„45 Minuten inklusive umziehen für 3,50 oder länger?“
Statt einfach „länger“ zu sagen, informierte ich sie:
„Also laut neuster Studien fängt der Körper beim Schwimmen erst nach 45 Minuten an, Kalorien zu verbrennen.“
Sie musterte mich von oben bis unten, ihr Blick verweilte kurz auf meinem Bauch und sie sagte:
„5,50.“
Dann lachte sie zum ersten mal in meiner Anwesenheit.
An diesem Tag befanden sich Dutzende von Menschen in dem 25m-Becken. Ich begab mich ins Wasser und versuchte erst einmal die andere Seite zu erreichen. Doch weit kam ich nicht, denn hier gab es an diesem Tag eine Mauer mitten im Wasser.
Eine Mauer aus kraulenden Sportschwimmern, zwei nebeneinander schwimmenden und ständig quatschenden Kommunikations-Design-Studentinnen und einem alten Glatzkopf mit neongelber Badekappe, der seine unausgereifte Schmetterlings-Technik übte.
Ich wollte der Mauer ausweichen, doch neben mir trieben drei faltige, dicke Omas, friedlich wie eine gigantische Seerose im Chlorwasser.
“Auweia, is das voll heute!” sprach mich eine der Omas an.
Eine von diesen Biomüttern musste sich mit schwäbischen Dialekt im Vorbeischwimmen unbedingt in das Gespräch einklinken, bevor es überhaupt ein Gespräch werden konnte:
“Deesss ischt ja der Wahnsinn, ischt dees immer sso voll?”
Ich sagte: “Na ja, Mittwoch nachmittags ist es meistens eher leer.”
„Jetzt machen sie mal keine Propaganda, junger Mann!” erklang die quakige Stimme einer der Omas aus der ollen Seerose.
Was für ein Missgeschick! Der entspannte Mittwoch Nachmittag sollte natürlich weiterhin nur den wenigen Eingeweihten gehören.
Ein junger Bademeister forderte die sportlichsten aller Schwimmer plötzlich auf, den abgesperrten Bereich zu verlassen und kündigte etwas an, was ich von den Mittwoch-Nachmittagen auch noch nicht kannte: Das Kinderschwimmen.
Kreischend stürmte eine Schar Erstklässler aus den Duschen in die Halle. Das volle Becken wurde noch voller. Das Ausweichen wurde unausweichlich.
Ich musste eine Pause am Beckenrand einlegen, um mir eine Strategie auszudenken, wie ich weiterhin immer in Bewegung bleiben könnte ohne zu viel Slalom zu schwimmen.
Neben mir stand ein dicker Italiener mit Badekappe und Schwimmbrille, der sich wohl auch eine Strategie ausdenken wollte, wie er hier Sport treiben kann.
Ein dürrer, älterer Berliner mit langen Haaren und einer Alkoholfahne, die sich am gesamten Beckenrand entlud, saß gemütlich in der Ecke unter dem lächelnden Behinderten-Lift und musterte den südländischen Schwimmer von oben bis unten.
“Du siehst aus wie ne Robbe!”
Der Italiener lächelte.
“Ich?“
“Ja, du! Du weißt doch, was eine Robbe ist, oder?”
“Haha, ja una Robba.”
Der Italiener wusste es nicht.
“Eine Robbe ist ein Tier. Und das Tier das sieht aus wie du!”
Der Italiener sagte, verunsichert lächelnd “Danke!“ und guckte mich fragend an, um mir mit seinem Blick mitzuteilen, dass er keinen blassen Schimmer hatte, was der Alki in der Ecke von ihm wollte.
Ich muss zugeben, dass ich kurz über diese absurde Situation schmunzeln musste.
“Richard, das ist nicht lustig!” hallte es laut durch den Raum. Ich zuckte zusammen.
“Richard, hör auf Johanna-Elisabeth zu treten!” rief der Schwimmlehrer.
Unter den Erstklässlern befand sich offensichtlich ein Rowdie, der Richard hieß.
„Richard, hör auf Patricia-Olivia zu treten!“
Während mein Erstklässler-Namens-Doppelgänger wahrscheinlich alle Doppelnamen tragenden Mitschülerinnen trat, fielen mir immer mehr die verschiedenen Gerüche auf, die sich mit dem Chlorgeruch des Wassers vermischten:
Faule Zähne, Haarspray, kalter Zigarettenatem, Schnaps, Mundwasser, ausgestoßene Bulette und ich war mir nicht ganz sicher aber es hätte durchaus sein können, dass irgendejemand im Wasser gepupst haben könnte. Es waren jedenfalls die olfaktorischen Zeichen, die mich an diesem Tag dazu brachten, die Schwimmhalle vorzeitig zu verlassen.
Nachdem ich angezogen war, setzte ich mich in den Eingangsbereich und trank einen Kakao aus dem Kaffeeautomaten, der das Wechselgeld ab und zu in den Abfluss im Boden spuckt.
Neben mir saßen einige ältere Damen und erzählten sich, welche Kuchen sie für den Nachmittags-Kaffee gebacken haben und dass es bei Aldi gerade eine Torte von „koppenrath & wiese“ für drei Euro im Angebot geben würde. Ich hörte interessiert den Neuigkeiten zu und dachte:
Der Donnerstag Vormittag ist nicht zu empfehlen, der Mittwoch Nachmittag ist an Entspannung einfach nicht zu toppen.
Und falls jemand von euch wissen will, wann diese Schwimmhalle so gut wie kaum besucht wird, dem sei gesagt, dass ich hier keine Propaganda mache und verweise auf die wunderschöne, historische Schwimmhalle in der Gartenstrasse in Berlin-Mitte. Dort könnt ihr bärtige Hipster und dünne Hipsterinnen beobachten, die am Beckenrand ihre Yogaposen für die nächste Instagram-Story üben.
Richard Blaha, 2017