Während ich nach unserer Flucht in die BRD die deutsche Sprache in einer Rekordgeschwindigkeit erlernte, entdeckte ich das schrecklichste Wort, dass meine hochsensiblen, böhmischen Gehörgänge bis dahin je gehört hatten:
Gudrun.
Ich weiß heute nicht mehr, ob ich diesen altgermanischen Namen, der, ins moderne Deutsch übersetzt, Kampf-Geheimnis bedeutet, einfach nur hässlich fand. Oder ob er mir unangenehm war, weil die junge Dame, die diesen Namen trug uns Flüchtlinge nicht mochte.
// Das war in Hungen-Inheiden. Das ist ein Dorf im Landkreis Gießen, in Mittelhessen, in das 1982 einige der Ost-Flüchtlinge aus der hessischen Erstaufnahme-Einrichtung Schwalbach im Taunus landeten. Unter ihnen waren auch mein Vater und ich. //
In Inheiden und den umliegenden Dörfern wohnten – neben Gudrun – auch andere Einheimische die uns nicht mochten.
Bevor wir eingezogen sind, gab es dort Demonstrationen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und in den lokalen Medien wurde über den Sinn und Zweck von Asylantenheimen diskutiert. Die Toleranten setzten sich durch und wir wurden in der Pension zum See untergebracht.
Genau gegenüber wohnte ein Klassenkamerad, dessen Eltern der Überzeugung waren, dass in Deutschland nur Deutsche leben dürfen. Dieser Junge hatte mich mal zu sich eingeladen und wir spielten mit seiner Carrera-Bahn. Doch dann verboten ihm seine Eltern den Umgang mit mir. Die Asylanten aus dem Ostblock waren ihnen suspekt und damit auch die Flüchtlings-Kinder.
Das fand ich schade. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in einem Land, in dem Raumschiff Enterprise im Fernsehen läuft, Erwachsene gibt, die keine Ausländer mögen. Das wäre ja wie in Tschechien, wo die Roma nicht besonders gemocht wurden.
Als wir noch in Prag wohnten, war ich mal in ein Roma-Mädchen verliebt.
Verliebt ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich war ja erst sechs Jahre alt. Ich fand sie schön und spielte gerne mit ihr.
In unserer Nachbarschaft hat es sich damals rumgesprochen, dass ich mich mit ihr angefreundet hatte. Mir wurde dann nahegelegt, dass ich mich mit „dreckigen Zigeunern“ nicht abgeben soll und durfte mit dem schönen Mädchen nicht mehr spielen. Angeblich waren die Roma kriminell, würden sich nicht an unsere Kultur anpassen, würden klauen, nie Arbeiten, nur betteln und würden sich nie waschen. Ich fand diese Argumente schon damals sehr seltsam. Das Mädchen hatte mir doch ein Spielzeugauto geschenkt, ihr Vater kam Abends immer von der Arbeit nach Hause, sie roch immer nach Seife und nach frisch gewaschener Wäsche und ihre Mutter backte uns Apfelstrudel.
Und sie war sehr attraktiv, wie viele der Roma-Mädchen. Wer Soledad Miranda noch kennt, weiss wovon ich spreche.
Nach der Flucht in dieses so ordentliche West-Deutschland hätte ich nicht gedacht, dass hier so etwas möglich gewesen wäre. Wo es so ordentlich war, mussten die Menschen schließlich auch ordentliche Gedanken und Sympathien gegenüber anderen gehabt haben.
Doch langsam verstand ich die traurige Wahrheit: Für die deutschen Nachbarn des Asylantenheimes waren wir das, was für die Erwachsenen in der Tschechoslowakei die Roma waren. Und das wollte ich nicht sein. Mit neun Jahren beschloss ich, ein ordentlicher Deutscher zu werden.
Ich wollte nicht ausgegrenzt werden und ich wollte niemanden ausgrenzen. Ich wollte nicht, dass es einem deutschen Kind verboten wird mit mir zu spielen, weil ich ein Ausländer war. Und ich wollte nicht, dass es mir deswegen irgendwann verboten wird, mit den Deutschen oder den türkischen Kindern aus der Schule zu spielen.
Da gab es nur ein Hindernis: Meinen tschechischen Akzent.
Meine Mission war klar:
Ich musste deutsch sprechen wie ein Deutscher!
Nach unserem Umzug aus dem Asylantenheim in die erste eigene Wohnung (in Pohlheim Hausen in Mittelhessen) hörte ich jeden Tag vor der Schule die Radiosendung HR3 Pop und Weck mit Thomas Koschwitz und nach der Schule die HR3 Mittagsdiskotheke, der dann die HR3 Stereobox folgte. Ich analysierte das akzentfreie Hochdeutsch, das die Moderatoren zwischen Depeche Mode, Genesis, Madonna, Michael Jackson und BAP benutzten, um Witze zu reißen und Sprüche zu klopfen, wie es in den Achtzigerjahren eben modern war und wie es bei einigen Radiosendern heutzutage immer noch Gang und Gäbe ist, als wären die Achtziger nie vorbei gewesen.
Ich fing mit den zwei Buchstaben an, die am schwersten auszusprechen waren: R und L.
Ich konnte damals überhaupt nicht nachvollziehen, wie es die Deutschen geschafft hatten, ihre Zungen so zu entwickeln, dass sie ein R ohne Rollgeräusch aussprechen können. Und wie war es nur möglich ein L so auszusprechen, dass es so dezent klingt, als wäre es nicht mit einer Zunge sondern mit einem weichen Kissen gesprochen?
Ich sprach die Moderationen und Sprüche von Thomas Koschwitz monatelang nach und hatte einfach keinen Erfolg. Es war nicht möglich, die Zunge so zu verformen wie ein Deutscher. Ich musste wohl ein Leben lang damit leben, als Tscheche erkannt zu werden.
Es war dann an einem frühen Morgen im Winter 1985, als mich der Heureka-Moment erwischte. Mein Vater kam von seiner Nachtschicht nach Hause und legte frische Brötchen für mein Frühstück auf den Küchentisch. In meinem Kinderzimmer, neben meinen Bett, schaltete sich wie jeden Morgen um 6:11 mein Radiowecker ein, während Thomas Koschwitzs Stimme gerade über die aktuelle Verkehrslage informierte.
„es liegen uns zur Zeit keine Meldungen über Verkehrsbehinderungen vor.“
Noch im Halbschlaf hallte das „vor“ in meinem Kopf nach. Während ich langsam wach wurde, rezitierte ich es immer und immer wieder: Voa, Voa, Vor..
Das deutsche R wurde überhaupt nicht mit der Zungenspitze gerollt! Es wurde wie ein A ausgesprochen! Wieso ist mir das zuvor nie aufgefallen?
Dann versuchte ich das R, das wie ein A klang in der Mitte eines Wortes. Für diese Übung fiel mir, nach drei langen Jahren des Vergessens, der Name „Gudrun“ ein und ich sagte laut: „Gúdaún“,„Gúd aún“, „Gúd a ún“…
Nein, das war es nicht. Doch meine Motivation kannte jetzt keine Grenzen und ich übte immer weiter. „Gúdaún“, „„Gúd ah ún“
Während meiner Übungen löste sich plötzlich Schleim von meinem Gaumen, und damit es zu keinen Erstickungsanfällen kommen konnte, schluckte ich den Brocken herunter. Und das, während ich das R übte, das wie ein A klingt. Das hatte zufolge, dass ich kurz meinen Rachen säubern musste und die Luft zurück zum Gaumen presste. Dabei sprach ich zufällig zum ersten Mal in meinem Leben ein hochdeutsches Rrrr aus. GUDRUN. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen:
Das deutsche R wird nicht gerollt, es wird gegurgelt!
Begeistert gurgelte ich es immer wieder und wieder. R, R, Rrrr.. Jetzt wusste ich: Wer das Unmögliche schafft, schafft auch mehr. Auf meine alten Knochen, mit meinen inzwischen stolzen 12 Jahren, sollte ich es doch noch schaffen, Deutsch mit deutschem Akzent zu sprechen und bei den Ausländerfeinden nicht mehr aufzufallen.
Mit dem L war es dann auch irgendwann soweit.
Und dann nahm ich mir nach und nach alle anderen Buchstaben vor:
Wie spricht man sie am Anfang aus? Wie in der Mitte, am Ende eines Wortes, vor Konsonanten, vor Vokalen? Und so weiter. Jede Woche ein anderer Buchstabe. Ich machte erstaunliche Fortschritte. Ich vergas dabei nur, meine Hausaufgaben zu machen und das wirkte sich auf meine Schulnoten aus. Ich traute mich ja auch niemanden zu sagen, warum ich die Hausaufgaben nie gemacht hatte. Kein Lehrer, keine Lehrerin und keine Mitschüler und Mitschülerinnen sollten erfahren, was ich da so lange heimlich übte. Mit Radio, Fernsehen, VHS und Comics. Deswegen erlernte ich auch Hochdeutsch und nicht Hessisch. Deswegen hatte ich nie gebabbelt, wie mein Vater, der mit tschechischem Akzent babbelt.
Heute fragen mich manche Menschen, ob ich ursprünglich ein Franzose wäre. Wahrscheinlich gurgele ich das R doch manchmal noch etwas zu viel. Aber keiner fragt, ob ich ein Tscheche wäre.
Aus mir ist wahrscheinlich doch ein ordentlicher Deutscher geworden.